Deutschland hat sich mit dem Beitritt zur UN-BRK im Jahr 2009 verpflichtet, kein Kind vom Besuch allgemeinbildender Schulen auszuschließen. Das Schuljahr 2018/19 markiert damit einen wichtigen Meilenstein für die Umsetzung dieser Verpflichtung: Gut ein Jahrzehnt hat Deutschland inzwischen daran gearbeitet, das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf zu realisieren. Kinder, die 2009 eingeschult wurden, beenden in diesen Tagen ihr zehntes Schuljahr– man darf also mit Fug und Recht von der ersten Inklusions-Generation sprechen. Anlass genug, um einen genauen Blick auf den tatsächlichen Ausbau von inklusiven Schulen in Deutschland zu werfen – auch wenn das Schuljahr durch Corona so ganz anders verlaufen ist als man sich es zu Beginn des Jahres noch hätte vorstellen können. Für unsere aktuelle Studie haben wir uns sechs Fragen gestellt; und die Antworten, die wir auf Basis von Schulstatistiken der Kultusministerkonferenz und der Länder, Umfragen und wissenschaftlichen Analysen gefunden haben, zeichnen ein klares Bild. Es hat sich in der breiten Fläche (bei regionalen Unterschieden) nur wenig getan in Sachen Inklusion – trotz mutmachender wissenschaftlicher Befunde und durchaus positiver Erfahrungen von Eltern. Und auch perspektivisch ist – nimmt man die derzeit zur Verfügung stehenden Zahlen ernst – nicht mit flächendeckenden Fortschritten zu rechnen.

Wie hat das deutsche Schulsystem den Anspruch der UN-BRK bislang umgesetzt?

Für die aktuelle Studie haben wir die jüngsten Schulstatistiken der Kultusministerkonferenz (konkret: hier und hier) ausgewertet. Die Ergebnisse schließen nahtlos an die Befunde früherer Analysen an und zeigen, dass Deutschland insgesamt beim Abbau des „exklusiven“ Unterrichtens in Förderschulen nur langsam voran: 2008/09 wurden 4,8 Prozent aller Kinder der Jahrgangsstufen 1 bis 9 oder 10 in Förderschulen unterrichtet. Zehn Jahre später galt dies immer noch für 4,2 Prozent.

Und: Im Schuljahr 2018/19 wurden deutschlandweit nahezu 26.000 Schülerinnen und Schüler aus den Grundschulen und aus den weiterführenden Schulen in Förderschulen überwiesen. Ein Blick in die einzelnen Bundesländer zeigt große Unterschiede: Auf der einen Seite finden wir Länder wie Baden-Württemberg, Bayern oder Rheinland-Pfalz, in denen der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die Förderschulen besuchen, im Vergleich zu 2008/09 gestiegen ist; auf der anderen Seite gibt es aber auch Länder wie die drei Stadtstaaten oder das Flächenland Schleswig-Holstein, in denen dieser Anteil in den vergangenen Jahren deutlich zurückging.

Was sagt die Wissenschaft über die Lernergebnisse im inklusiven Lernen?

Wir haben verschiedene Studien der vergangenen zehn Jahre gesichtet. Das Ergebnis: Es gibt keinen empirisch abgesicherten Hinweis dafür, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Lerngruppen geringere Lernfortschritte im Vergleich zum Lernen in Förderschulen machen würden. Vielmehr lernen Schüler:innen mit Förderbedarf tendenziell besser in inklusiven Klassen, als dies in Förderschulen der Fall ist. Bisher vorliegende Studien sehen also im Bereich der fachlichen Leistungen eher Vorteile des inklusiven Lernens. In den überfachlichen Aspekten wie z. B. Lernmotivation oder Wohlbefinden in der Schule hingegen zeigen sich je nach Studiendesign und Altersgruppe teils Vorteile des inklusiven und teils auch Vorteile des exklusiven Lernens. Gleichzeitig haben auch Schüler:innen ohne Förderbedarf im fachlichen Lernen keine Nachteile und profitieren in anderen Lernbereichen vom gemeinsamen Lernen. Und: Die acht Bundesländer, die in ihrer offiziellen Statistik Daten zu den erreichten Schulabschlüssen veröffentlichen, belegen, dass Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht seltener als Gleichaltrige in Förderschulen den Hauptschulabschluss verfehlen.

Wie steht die Gesamtbevölkerung zum Potenzial des inklusiven Lernens?

Die Sicht der Gesamtbevölkerung zur schulischen Inklusion fällt überwiegend positiv aus: In den diversen Umfragen der vergangenen Jahre, befürwortet eine große Mehrheit gesellschaftliche Inklusion ebenso wie das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen. So schätzt z. B. in einer Umfrage im Auftrag von Aktion Mensch und Die Zeit (2019) die Mehrheit aller Befragten die Bedeutung, die Inklusion für das gesellschaftliche Miteinander hat, als sehr hoch ein: Etwa drei Viertel der Befragten halten Inklusion für förderlich im Hinblick auf Toleranz und einen besseren Umgang miteinander, und rund 70 Prozent erwarten, dass inklusives Lernen die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärkt und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man sich sozial engagiert. Verhaltener fallen hingegen die Einschätzungen zur Leistungsförderung in einem inklusiven Schulsystem aus: Knapp über 60 Prozent denken, dass die Chancen insbesondere leistungsschwächerer Kinder auf (gute) Schulabschlüsse steigen und dass das gemeinsame Lernen gut auf das Berufsleben vorbereite. Schließlich befürchtet knapp die Hälfte der Befragten, dass leistungsstärkere Schüler im Lernen gebremst werden. Hier scheinen die oben kurz angesprochenen Befunde aus den wissenschaftlichen Studien bislang in der Breite noch nicht angekommen zu sein.

Welche Erfahrungen haben Eltern mit dem inklusiven Lernen gemacht?

Grundsätzlich befürworten Eltern schulpflichtiger Kinder den inklusiven Unterricht. Dabei variiert in Umfragen die Zustimmung zum gemeinsamen Lernen je nach Förderschwerpunkt deutlich. Das hat auch unsere aktuelle Umfrage von mehr als 4.000 Eltern schulpflichtiger Kinder gezeigt. Die befragten Eltern äußern wenig Skepsis im Hinblick auf Kinder und Jugendlichen mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen und auch bei den Förderschwerpunkten Sprache und Lernen befürworten zwei Drittel und mehr den gemeinsamen Unterricht. Anders sieht das Ergebnis der Umfrage aus, wenn es um die Förderschwerpunkte emotionale und soziale Entwicklung (ESE) geht, hier unterstützt nur etwa ein Drittel der Eltern die schulische Inklusion.

Unsere aktuelle Umfrage zeigt aber auch: Inklusionserfahrene Eltern sind insgesamt zufriedener mit den Schulen, Klassen und Lehrkräften ihrer Kinder. Es sind hier vor allem die Eltern, deren Kinder eine nicht inklusive Schule besuchen, die das Potenzial des gemeinsamen Lernens verhalten bewerten. Eltern inklusiv lernender Kinder vergeben im Vergleich zu denen ohne konkrete Inklusionserfahrung zudem bessere Noten, wenn es um die Qualität des Unterrichts in der Klasse des eigenen Kindes geht. Kritische Töne mischen sich immer dann in die elterlichen Antworten, wenn es um die Raum- und Personalausstattung inklusiver Schulen geht. Dabei sind sich Eltern und Lehrkräfte übrigens einig.

Wie stehen Lehrkräfte zum inklusiven Unterricht?

Lehrkräfte fühlen sich nicht gut vorbereitet: Mangels eigener Daten haben wir uns auch hier einen Überblick über die aktuellen Befragungen wie z. B.  hier verschafft. Diese zeigen unterm Strich, dass sich ein Gutteil der befragten Lehrerinnen und Lehrer (je nach Umfrage ein Drittel bis die Hälfte aller Befragten) für die Arbeit in inklusiven Klassen unzureichend vorbereitet und schlecht begleitet fühlt. Tendenziell möchten sie lieber keine inklusive Klasse als Klassenlehrer oder Klassenlehrerin übernehmen.

Wie wird sich die schulische Inklusion in den kommenden Jahren entwickeln?

Auch in den kommenden Jahren wird die Exklusionsquote nicht sinken: Wir haben die aktuellen Prognosen der Länder zu den Schüler- und Lehrerzahlen aus der KMK-Statistik bis 2030 reanalysiert. Dabei zeigt sich, dass im Durchschnitt aller Bundesländer der Anteil der Kinder, die in Förderschulen unterrichtet werden, bis 2030/31 auf dem 2018/19 erreichten Niveau von 4,2. Prozent verharren wird. Damit wäre für Deutschland insgesamt nicht mit einem Fortschritt bei der Annäherung an die Zielsetzungen der UN-Konvention zu rechnen. Hinter diesem Durchschnittswert liegen natürlich erneut erhebliche länderspezifische Unterschiede: Einerseits finden wir Länder wie Bayern, Hessen oder auch Mecklenburg-Vorpommern, in denen nach den Prognosen sogar mit wieder wachsenden Anteilen der Kinder und Jugendlichen, die in Förderschulen lernen, zu rechnen sein könnte. Andererseits sehen wir aber auch Länder wie die drei Stadtstaaten, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein, in denen wir angesichts der aktuellen Schülervorausberechnungen weiter sinkende Anteile erwarten würden.

Unser Fazit: Elternwunsch und wissenschaftliche Befunde bieten Rückenwind für ein mutigeres Vorgehen der Politik in der Zukunft

Inklusion ist keine Kurzstrecke, die irgendwann zu Ende ist oder aus der man aussteigen kann, weil gerade anderes wichtiger erscheint. Gerade in Zeiten von Corona, in den Diskussionen um Homeschooling und digitalem Lernen, sind die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nahezu völlig aus dem Blick geraten. Das müssen wir in Zukunft anders machen –  sonst landen wir wieder in der Exklusion. Und zwar in einer neuen Dimension: Wir reden dann nicht mehr nur von der Exklusion durch den Besuch von Förderschulen, sondern von einem drohenden Ausschluss vom Lernen insgesamt. Und das kann nicht sein. Schon gar nicht angesichts der hier vorgestellten Befunde, nach denen der nachweisliche Lernerfolg für alle Kinder und die positiven Rückmeldungen der Eltern Mut machen für den weiteren Ausbau des inklusiven Unterrichts. Was dafür gerade in Zeiten des Lehrermangels gebraucht wird, ist ein planvolles, abgestimmtes Vorgehen der Bundesländer und der deutliche Fokus auf qualitätsvolle Konzepte. Dann können die Exklusionsquoten der Zukunft ganz anders ausfallen als die derzeitigen Hochrechnungen dies prognostizieren und der Besuch einer allgemeinbildenden Schule ist nicht mehr abhängig vom Wohnort, so wie bisher.