Deutschland im August 2020: In einigen Bundesländern haben die Schulen bereits begonnen, in anderen Ländern genießen Eltern und Lehrkräfte die Pause. Corona hatte vor den Ferien das Schulleben völlig durcheinandergewirbelt, das Lernen fand an anderem Ort, in anderem Rhythmus und in anderer Form statt – zu Hause, in familiärer Selbstorganisation und mit deutlichem Fokus auf „das Nötigste“. Ständiger Begleiter vieler Familien waren Überforderung, Frust und Sorge um die Zukunft, wie wir bereits hier beschrieben haben. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Bildungspolitik auf das neue Schuljahr vorbereitet hat. Wie gehen die Bundesländer mit den besonderen Herausforderungen dieser Zeit um: Wer setzt klare Regelungen und gestufte Maßnahmenpläne für Infektionsschutz und robuste pädagogische Konzepte für einen bruchlosen Übergang von Präsenz- zu Distanzlernen ein? Wie und in welcher Form werden die Schulen versuchen, nach der langen Zeit der physischen Distanz ein gesundes soziales Miteinander von Schüler:innen unter sich und mit Lehrkräften sicherzustellen? Wie gut sind Administration und Praxis auf lokale Ausbrüche oder gar auf eine mögliche zweite Welle vorbereitet?
Eine wesentliche Frage ist zudem, welche Effekte Corona und die damit einhergehende gesundheitsbedingt eingeschränkte Einsatzfähigkeit etlicher Lehrkräfte im neuen Schuljahr auf die Stundenpläne haben wird. Denn mit oder ohne Pandemie: Eines der größten Probleme an Deutschlands Grundschulen ist der Lehrermangel. Dieser betrifft mehr oder weniger alle Fächer, auch die musisch-künstlerischen. Am Beispiel Musik möchten wir im Folgenden deutlich machen, wie die Situation zur Unterrichtsversorgung aller Grundschulklassen in den Bundesländern aussieht und wie diese durch die aktuelle Krise noch verschärft wird. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Deutschen Musikrat und allen sechzehn Landesmusikräten wurden die verfügbaren bildungsstatistische Daten der Kultusministerien analysiert. Die Ergebnisse beruhen auf Daten von 14 Bundesländern und lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zur Abdeckung des in den Stundentafeln der Länder vorgegebenen Umfangs an Musikunterricht in der Grundschule werden – so schätzen die Autoren der Studie – bundesweit rund 40.000 Musiklehrkräfte benötigt. Die Realität sieht jedoch leider anders aus: Deutschlandweit arbeiten nur rund 17.000 grundständig ausgebildete Musiklehrkräfte. Damit fehlen aktuell bereits rund 23.000 Lehrkräfte, um den Pflichtunterricht im Fach Musik sichern zu können. Mit 43 Prozent wird im Bundesdurchschnitt nicht einmal die Hälfte der von den Ländern vorgegebenen Unterrichtsstunden von ausgebildeten Musiklehrkräften erteilt. Diese Lücke wird hauptsächlich durch fachfremd erteilte Unterrichtsstunden geschlossen: Je nach Bundesland liegt dieser Anteil zwischen 11 und 73 Prozent, bei tendenziell höheren Anteilen in den westlichen Bundesländern. Anders formuliert: Ob ein Kind tatsächlich die Gelegenheit hat, Musik im Unterricht durch eine ausgebildete Musiklehrkraft kennen zu lernen hängt in hohem Maße vom Wohnort ab. Auch in der Zukunft wird sich dies nicht ändern: Mittels Modellrechnung haben die Autoren der oben genannten Studie ermittelt, dass 2028 voraussichtlich 25.000 Musiklehrkräfte zur grundständigen Musikunterrichtsversorgung von Grundschulen fehlen werden. Zudem wird der Anteil des fachgerecht erteilten Musikunterrichts weiter fallen – im Bundesdurchschnitt von 43 auf 39 Prozent im Bundesdurchschnitt. Der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts wird weiterhin stark zwischen den Ländern variieren und zwischen 26 und 81 Prozent liegen. Kurz: Auf Basis der vorliegenden Daten ist davon auszugehen, dass im Schuljahr 2028 knapp vier von zehn verpflichtenden Unterrichtsstunden an Grundschulen von grundständig ausgebildeten Musiklehrkräften erteilt werden können, weitere fünf von zehn Stunden werden fachfremde Kräfte, im besten Falle Vertretungs- oder Klassenlehrkräften übernehmen. Fast jede zehnte Stunde wird schlicht ausfallen.

Corona verschärft die Situation – Es finden kaum noch musikalische Aktivitäten statt

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation des Musikunterrichts an der Grundschule also weiter zugespitzt – ein Ende ist nicht in Sicht. In den vergangenen Monaten war zu beobachten, dass die coronabedingte Konzentration auf die Kernfächer die vermeintlichen „Nebenfächer“ wie Kunst, Sport und Musik in den Hintergrund gedrängt hat. Lehrkräfte, Eltern und Schulverwaltung waren froh, dass mittels analoger und digitaler Formate zumindest die wesentlichen Lehrplaninhalte in Fächern wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften nicht aus dem Blick verloren wurden. Der Ausfall der Nebenfächer erhält entsprechend wenig öffentliche Resonanz – nur die Fachverbände weisen auf die damit einhergehenden Verluste hin.[1]
Ob und wie das Potenzial des Musikunterrichts im kommenden Schuljahr im Rahmen der Verordnungen der Länder[2] entfaltet werden kann wird sich zeigen. Die Vorgaben hinsichtlich Raumgröße und Lüftung, zum Singen (am besten nur draußen!) und Instrumentalspiel lassen derzeit wenig Raum dafür. Hinzu kommt, dass die ohnehin reduzierte Anzahl an Musiklehrkräften in Grundschulen aktuell noch weiter dezimiert ist: Von den aktiven Musiklehrkräften liegt der Anteil, der altersbedingt zur Risikogruppe zählt und somit für den Präsenzunterricht ausfallen kann (55 Jahre und älter), je nach Bundesland zwischen 19 und 36 Prozent.
Trotz bzw. gerade in dieser schwierigen Situation lohnt es sich, alle Kräfte zu bündeln, um den Musikunterricht in der Grundschule nicht noch weiter ins Abseits zu stellen. Der Grundschulzeit legt für Kinder die Grundlage für einen vielschichtigen und intensiven Zugang zu Musik. Hier kommen sie z. B. mit Melodien und Rhythmen in Berührung, machen selbst Musik und entwickeln ein Gespür für Tonfolgen und ihre Wirkung. Alle, die in Schule und Ganztag mit Kindern und Jugendlichen musikalisch aktiv sind, wissen: die aktive Beschäftigung mit Musik regt Kreativität, Eigenständigkeit und individuelle Entwicklungsprozesse an und besitzt besonderes Potenzial für Sprachentwicklung und soziales Miteinander. Jedes Kind kann voraussetzungslos mitmachen, seine Erwartungen und Kompetenzen einbringen und Selbstwirksamkeit erleben – unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft, Sprachfähigkeit, von Vorerfahrung oder Begabungs- bzw. Beeinträchtigungsfaktoren. Dies macht Musik so wertvoll für die Arbeit in heterogenen Gruppen, insbesondere auch in inklusiven Lernsettings. Wenn Schulen, Kitas und sonstige Kultur- und Begegnungsorte nicht (physisch) zugänglich sind, entfällt für Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungs- und Berufsstatus ihr zumeist einziger Zugang zu Angeboten kultureller Bildung.

Verlust vor allem für Kinder aus armutsgefährdeten Familien

Finden an den Schulen keine musikalischen und kulturellen Bildungsangebote statt, sind also besonders Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungs- und Berufsstatus benachteiligt. So zeigen z. B. unsere Studien „Jugend und Musik“ und „Familie und Musik„, dass sich die soziale Ungleichheit unseres Bildungssystems auch in der musikalischen Bildung fortsetzt: Die Analysen machen deutlich, dass familiäre Faktoren beim Erlernen eines Musikinstruments eine wichtige Rolle spielen. Und sie belegen, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen und niedrigerem Bildungs- und Berufsstatus der Eltern signifikant weniger an Angeboten zur musikalischen Bildung teilnehmen. Darum ist es umso wichtiger, dass die Bildungseinrichtungen (auch) hier eine Grundversorgung gewährleisten: Kindertageseinrichtungen und Schulen mitsamt ihren ganztägigen Angeboten sind die Orte, an denen alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können. Nur, wenn alle Kinder hier mit kultureller Bildung in Kontakt kommen, kann dem Nachteil von bildungsfernen Familien zumindest grundständig begegnet, können faire Chancen auf kulturelle und musikalische Teilhabe für alle Kinder gewährleistet werden. Aktuell können Angebote zur Musikalischen Bildung der Ganztagsbildung in Kooperation von Schule und außerschulischen Akteuren nur bedingt stattfinden, und dies wird sich vermutlich auch auf absehbare Zeit nicht ändern. Damit gehen wichtige Möglichkeitsräume verloren, in denen Kreativität, Eigenständigkeit, Selbstwirksamkeit und soziales Miteinander erfahren werden können. Sie bieten somit besonderes Potenzial für die Aneignung von zukunftsweisenden Kompetenzen, wie sie in den 21st Century-Skills zusammengefasst werden. Diese kreativen Räume sind nicht durch andere Schulfächer ersetzbar.
Aus diesem Grund sieht der „Rat für Kulturelle Bildung“ die zentrale Aufgabe von Schulen darin, „mit Kultureller Bildung den krisenbedingten Einschränkungen zu begegnen und kulturelle Teilhabe sowie ein Mindestmaß an Grundversorgung mit Möglichkeiten der ästhetischen Auseinandersetzung und Gestaltung zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, für die die Schule ein wichtiger, vielleicht der einzige Ort der kulturellen Teilhabe und Erfahrungsraum ästhetischer Praxis ist.“[3]

Wege aus der Krise – Eine Chance für die musikalische Bildung

Derzeit ist häufig davon zu lesen, dass die derzeitige Krise Veränderungen der Gestaltung des (Präsenz-)Unterrichts, der Rolle der Lehrkräfte und der digitalen Medien mit sich bringen wird. Sogar von einem grundlegenden Wandel von Schule und Lernen insgesamt ist die Rede.  Auch der Musikunterricht könnte mit ein paar verstaubten Klischees aufräumen: „Die aktuelle Diskussion offenbart auch eine veraltete Vorstellung von Musikunterricht, denn dieser ist bei weitem nicht auf gemeinsames Singen beschränkt. Mit Kindern und Jugendlichen kann man die Welt der Klänge auch auf vielen anderen Wegen, etwa durch Komponieren, Body-Percussion oder mit Musik-Geschichten, erkunden. Wir müssen lernen, mit Corona zu leben, ohne unser kulturelles Selbstverständnis dem Virus zu opfern – mit Kreativität, Verstand und Pragmatik.[4] Der bisher recht stiefmütterlich behandelte Einsatz digitaler Medien in der Musikalischen Bildung kann und sollte ausgebaut werden. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, mit Hilfe digitaler Medien aktives Erleben und kreative Lernprozesse zu bereichern.[5] Außerschulische Lernorte der musikalischen und kulturellen Bildung können stärker mit einbezogen und damit gleichzeitig die unsichere Präsenzsituation und die unzureichenden Raumkapazitäten in Schulen entzerren. Fachkräfte aus den Musikschulen, Musikstudierende sowie freie Musiker:innen können einbezogen und für Angebote an außerschulischen Lernorten eingesetzt werden – beispielsweise auch im Tandem mit Musiklehrkräften an Grundschulen, die altersbedingt zur Risikogruppe gehören. So kann in die Coronazeit auch als Chance gesehen werden, „Kooperationen neu zu denken und in Bildungsangebote nachhaltig zu investieren.“[6]
Nicht zuletzt können, wie auch in anderen Fächern – als kurzfristige Maßnahme und als Übergangslösung – Seiteneinsteiger:innen qualifiziert werden, um die akute Unterversorgung mit Musikunterricht abzumildern. In Zeiten, in denen Auftrittsmöglichkeiten rar geworden sind und Chor- und Orchesterproben reduziert werden, gibt es hierfür möglicherweise bei dem*der ein oder anderen qualifizierten Musiker:in oder Musikpädagog:in eine größere Offenheit. Gerade für Absolvent:innen der Musikhochschulen ist die Aussicht auf einen Arbeitsplatz im Kulturbetrieb aktuell völlig aussichtslos. Als Übergangslösung könnte diese Personengruppe in Begleitung von erfahrenen Musiklehrkräften, die zur Risikogruppe gehören, ersatzweise in den Schulen ein musikalisches Angebot für alle Schüler:innen aufrechterhalten. Gerade in diesem kurzfristigen Lösungsansatz steckt auch eine Chance für die Zukunft des Musikunterrichts an Grundschulen. Durch Weiterqualifizierung können interessierte Absolventen:innen relativ kurzfristig zu grundständig ausgebildeten Lehrkräften qualifiziert werden und dem prognostizierten Lehrkräftemangel im Fach Musik der Grundschule bis zum Jahr 2028 so entgegenwirken.
Die aktuelle Situation kann also auch eine Chance für die Zukunft sein. Eine Verbesserung der Ausbildungssituation (mehr Studienplätze und eine Anpassung der Zugangsvoraussetzungen) und eine noch bessere Nutzung der im System vorhandenen Ressourcen durch Aufstockung der Deputate von Musiklehrkräften und Qualifizierungsangebote kann auch in der aktuellen Situation vorbereitet und nach und nach umgesetzt werden. All diese Maßnahmen geraten bei den angesichts der Pandemie zu klärenden grundsätzlichen Fragen über den Zugang zu schulischer Bildung leicht in den Hintergrund. Es wäre jedoch fatal, wenn jetzt die Chance vertan würde auch zukünftig eine flächendeckende Musikunterrichtsversorgung von Grundschulen sicher zu stellen – und damit einen weiteren Faktor zur Sicherstellung von gesellschaftlicher Teilhabe zu verspielen.

[1] Übersichten über Stellungnahmen der Verbänden finden sich auf den Seiten des Musikinformationszentrums https://themen.miz.org/corona/meldungen und des Bundesverbands Musikunterricht: https://www.bmu-musik.de/service/digitaler-musik-unterricht-zu-zeiten-der-covid-19-pandemie/
[2]https://www.bmu-musik.de/service/digitaler-musik-unterricht-zu-zeiten-der-covid-19-pandemie/
[3] https://www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/user_upload/RFKB_Positionspapier__Corona.pdf , S. 3
[4]https://www.musikrat.de/aktuelles/detailseite/schulstart-ins-ungewisse-deutscher-musikrat-fordert-die-staerkung-des-musikunterrichts-in-corona-zeiten?fbclid=IwAR2cKX3PWv_ARDtnZ8iZejR4uK4jZrOauGeAmQiF-qPJLplFXJXRp1RL_m4
[5 Unsere eigenen Praxisprojekte inkl. Leitfaden für die Umsetzung stellen wir hier vor: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/musikalische-bildung/projektthemen/digitale-medien Weitere http://forschungsstelle.appmusik.de/
[6] „Die Corona-Krise ist eine Chance, Kooperationen neu zu denken und in Bildungsangebote nachhaltig zu investieren.“ https://www.bkj.de/archiv/newsletter-kulturelle-bildung-072020/