Die Corona-Pandemie brachte seit diesem Frühjahr zahlreiche Änderungen für Schüler:innen und ihre Familien mit sich. Durch Schulschließungen, plötzlichen Fernunterricht ohne ausreichende digitale Ausstattung und die soziale Distanz ergaben sich zahlreiche Herausforderungen, die das Schulsystem in den Fokus der Aufmerksamkeit rückten. Nun sind seit Beginn der Pandemie sechs Monate vergangen, die Erfahrungen aus den coronabedingten Schulschließungen, aus der Sommer(ferien)pause und aus den danach regional (pandemiebedingt) zum Teil sehr unterschiedlich verlaufenden Schul- und Unterrichtsversorgungen von Kindern und Jugendlichen wurden im Rahmen einer Vielzahl von Studien und Umfragen eingeholt. So wissen wir inzwischen unter anderem

  • wie wichtig die Einhaltung von zentralen Hygieneregeln in der Schule ist, um den Unterricht auch in Anbetracht regionaler Entwicklungen so umfänglich wie möglich aufrechterhalten zu können.
  • dass die Schulen ebenso wie Schüler:innen in Sachen digitaler Infrastruktur umgehend besser ausgestattet werden müssen.
  • dass Lehrkräfte im kompetenten Umgang mit dem digitalen Lernen fortgebildet werden müssen, um (nicht nur) im Falle einer erneuten Verlagerung des Lernens ins häusliche Umfeld direkt reagieren zu können.
  • dass Eltern mehr Unterstützung und Rückmeldung von den Lehrkräften benötigen, wenn es darum geht, das Lernen im Homeschooling zu organisieren.

Und gleichzeitig gibt es in den Diskussionen rund um Schule und Unterricht eine ganze Reihe von Aspekten, die deutlich zu kurz kommen. Einer dieser Aspekte betrifft die Frage nach den Effekten von Corona auf Schüler:innen  mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie herausfordernd die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention für das deutsche Schulsystem war (und weiterhin ist) und wie schleppend die Umsetzung bislang vorankommt (vgl. z. B. hier). Auch die Skepsis vieler im Hinblick auf die Frage, ob das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf generell oder auch in der konkreten Umsetzung vor Ort sinnvoll sein kann, wurde seit 2009 zum Teil hochemotional diskutiert. Seit Beginn der Corona-Pandemie spielt dieses Thema scheinbar kaum noch eine Rolle: Von wenigen Ausnahmen abgesehen finden sich in den Empfehlungen und Erlassen allenfalls randständige Hinweise darauf, wie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesen Zeiten lernen sollen. Auch wurden die besonderen Bedürfnisse der Familien von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf öffentlich vergleichsweise wenig thematisiert.

„Kinder mit Förderbedarf sind durch Corona noch stärker benachteiligt als andere Kinder“ (Originalzitat eines Vaters)

Einige Einblicke in die Erfahrungen von Familien mit Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Corona-Pandemie gibt unsere repräsentative Umfrage unter Eltern, die wir im Sommer 2020 gemacht haben. Wir haben gut 2.900 Eltern, darunter mehr als 600 Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, direkt danach gefragt, wie es ihnen und ihren Kindern in der Zeit der Schulschließungen und danach ging und was sie sich für die Zukunft wünschen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich viele Mütter und Väter von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf allein gelassen und überfordert gefühlt haben. Und auch bei ihren Kindern haben sie Vereinsamungstendenzen wahrgenommen, weil der soziale Kontakt zu Freunden und Mitschüler:innen in vielen Fällen nahezu komplett weggefallen ist. Hinzu kamen ganz konkrete Sorgen:

Da ist zum einen die Sorge um mögliche gesundheitliche Risiken für die Kinder selber und auch für die Familien: Aus den Antworten der 2.900 Eltern unserer Befragung geht hervor, dass (Stand Anfang August) in fast jeder zehnten Familie ein Schulkind lebt, das zur sogenannten Risikogruppe zählt. In 36 Prozent aller Familien gehört mindestens ein Mitglied des eigenen Haushalts zur Risikogruppe. Mit 58 Prozent bejaht deutlich über die Hälfte aller Befragten, dass weitere Familienmitglieder, die nicht im eigenen Haushalt leben, mit Blick auf eine COVID-19-Erkrankung ein erhöhtes Risiko tragen[1]. Lediglich 10 Prozent aller Befragten gaben an, in ihrer Familie gebe es überhaupt keine Personen, die zur Risikogruppe zählten. Es liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand, dass die Mütter und Väter, in deren Familie ein Kind mit erhöhtem Gesundheitsrisiko lebt, mehr Sorgen haben, was die potenzielle Ansteckungsgefahr in Schulen betrifft. Dies betrifft nicht alle, aber doch viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Zu dieser Sorge um mögliche Gesundheitsrisiken kommt eine weitere Sorge von Müttern und Vätern hinzu: Viele befürchten, dass infolge der Schulschließungen die Lern- und Leistungsunterschiede deutlich gewachsen sind und es Förderkinder zukünftig besonders schwer haben werden, den Anschluss an die Klassengemeinschaft zu halten. So haben 52 Prozent der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Lernmöglichkeiten ihres Kindes in der Phase des Distanzlernens als schlecht bewertet, etwa in der Hälfte aller Fälle haben die betreffenden Eltern nur einmal im Monat oder noch seltener Unterstützungsangebote zur Lernorganisation, Hinweise zur Bearbeitung der Aufgaben oder Feedback der Lehrkräfte zu den Lernergebnissen erhalten. Deshalb ist die individuelle Förderung ihres Kindes vielen Müttern und Vätern ein zentrales Anliegen. Das gilt übrigens unabhängig davon, ob der Unterricht auf Distanz, im Klassenverbund oder in Mischformen erteilt wird.

„Für die Zukunft wäre mehr Kontakt zu Lehrkräften wünschenswert“ (Originalzitat einer Mutter)

Mit Blick auf das Schuljahr 2020/21 wünschen sich Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf deshalb deutlich mehr Hilfestellung und bessere Rahmenbedingungen für das Lernen ihrer Kinder. 75 Prozent dieser Mütter und Väter ist es ein zentrales Anliegen, dass im Falle einer erneuten Phase des Homeschoolings der engere Kontakt zu Lehrkräften und Mitschüler:innen sichergestellt wird. Dafür unverzichtbar ist die angemessene Ausstattung mit digitalen Lernmitteln. 62 Prozent aller Eltern von Kindern mit Förderbedarf geben an, dass sie sich mehr technische Unterstützung von Seiten der Schulen wünschen. Hier sollten aus Sicht vieler Mütter und Väter insbesondere die finanziellen Mittel aus dem Digitalpakt Schule konsequent abgerufen und für eine Modernisierung der digitalen Infrastruktur genutzt werden. Eltern weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Verteilung neuer digitaler Endgeräte nicht einfach nach dem Gießkannenprinzip efolgen darf. Vielmehr sei ohne Zweifel eine Grundversorgung mit vergleichbarem digitalen Equipment für alle Kinder wichtig, darüber hinaus müssre allerdings die Möglichkeit für eine zusätzliche (digitale) Ausstattung je nach Gegebenheiten im Elternhaus, individuellem Förderbedarf oder Vorkenntnissen des Kindes geschaffen werden. So könne nicht einfach davon ausgegangen werden, dass jeder Haushalt über einen funktionierenden Drucker oder ausreichend schnelles W-Lan verfügt. Kinder mit Förderbedarf befinden sich an dieser Stelle in einer noch schwierigeren Situation: Genau wie sie im analogen Unterricht spezielle Materialien benötigen, brauchen sie zu Hause z. B. eine behindertengerechte Tastatur, spezielle Apps oder andere technische Hilfsmittel.

Übrigens: Man hätte erwarten können, dass die generelle Zustimmung zur Umsetzung der UN-BRK durch die Erfahrungen mit den coronabedingten Schulschließungen abgenommen hat. Dies ist nicht der Fall: An der seit Jahren wachsenden positiven Grundhaltung von Eltern zum gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in inklusiven Schulen bzw. Klassen haben die belastenden Erfahrungen der Pandemie nichts geändert –  das zeigt eine Zeitreihe, die wir seit 2015 verfolgen.

[1] Hier waren Mehrfachnennungen möglich